‚der ganze triumph des kapitalismus basiert darauf, dass er träume kolonialisiert.‘ arundhati roy
desillusionierungen
ich fahre mit der u-bahn
mir gegenüber sitzt eine frau, vielleicht 26, und ihre mutter.
die jüngere frau hat ihren einen arm locker um die schultern der mutter gelegt, die große papiereinkaufstüten zwischen ihren beinen bewacht und zu einem unbestimmten ort jenseits der u-bahn schaut.
die jüngere frau tippt mit einer hand eine sms in ihr handy.
die jüngere frau, die ältere frau, eine selbstverständliche gemeinschaft, eine unbenannte vertrautheit, verselbstverständlichte gesten, verselbstverständliches zueinandergehören miteinandersein
sie sitzen mir gegenüber
ich sehe sie an. ich weine
ich weine um meine nicht selbstverständlichkeit herkunftsfamiliärer zugehörigkeits klarheits bezugs bezüge
meine verentselbständlichkeit eines arms selbstvergessen und vertraut um die schulter einer anderen person einer anderen generation
die vertrautheit eines nicht reden müssens eines teilens
die selbstverständlichkeit einer selbstklaren nicht selbstgewählten zugehörigkeit
vertrautheit
nicht vertrauen
ich weine um die illusionen und eindrücke und wünsche nach einem guten wortlosen einvernehmen
einer wortlosigkeit die nicht ein totschweigen ist von dem was nicht stimmt
eine tabuisierung von unterschiedlichkeit von hadern von schmerzen von wut von zweifeln von nicht-passen
einer wortlosigkeit die die schwelle meiner zugehörigkeit markiert hat, die schwelle die, überschreite ich sie, zur aufkündigung aller naturalisierten essentialisierten zentralisierten herkunftsfamiliären bindungen führt
ich weine um meine verinnerlichten vernatürlichten illusionen davon, dass es sie gibt, die selbstverständlichen unverbrüchlichen relationen familiärer zugehörigkeit
dass es es gibt, das gefühl von zugehörigkeit, zu-hause-sein in familiären bezügen, geborgen sein in vertrauten liebevollen gesten, in wortlosem einvernehmen
ich weine, desillusioniert davon
dass es die schwelle gab
dass ich sie gefühlt habe ohne sie habe benennen zu können
und meine worte meine schritte über diese schwelle waren
ich weine
um den verlust meines kindlichen glaubens dass etwas gut ist, dass ich zugehörig bin, dass liebe ein klares, eindeutiges, gutes gefühl ist, dass familie ein ort von zugehörigkeit, liebe, klarheit ist, gut, eindeutig
weine
um den verlust
weine um den verlust
meiner sehnsucht, meines sehnens nach verselbstständlichten gesten, wortlosen klaren vertrautheiten im nicht frage gezeichneten umgang mit anderen
weine um meine illusionen
weine wegen meiner desillusionierungen
familie ist eine genderistische illusion einer reinen klaren idylle, einer selbstverständlichkeit, einer klarheit, eines alles übersteigenden bezugsrahmens, eines wertes, etwas woran x sich festhalten kann, auch wenn alles andere schwierig und kompliziert und unsicher scheint
die illusion besetzt meine träume, mein träumen, mein fühlen mein wünschen
die desillusionierung – was bleibt?
ich mache eine radtour, es ist wunderbares wetter, ein zaghafter frühling, ein lauwarmes verharren in der luft, eine versprechung von licht und blüten, von farbe. um mich herum paare, hand in hand rad fahrend, paare auf decken an seen liegend, paare arm in arm spazieren gehend, paare ruderboot fahrend. ich lese einen roman, in dem das glück das die eine person sucht, die liebe mit und zu einer anderen person ist, das happy end das paar, das aufgehen in einem zweierkontakt, die erfüllung durch das paar, die unvollständigkeit der einzelnen allein. im roman, im kino abends im film, und vorher in der werbung, paare, als idylle, als ideale, paare in zeitschriften, in tageszeitungsartikeln, in theaterstücken und hinterher in der bar und nachts in meinen träumen.
ich weine
wegen meines so langen und so unverbrüchlichen und unhinterfragten besetztseins mit dem aufgehen in paarillusionen,
wegen meines glaubens an das authentische meines fühlens, meines aufgehens im fühlen zu einer anderen person
ich weine um mein angestrengtes, aneckendes, unangepasstes, verurteiltest, dauer schlechtes gewissen verursachendes versuchen des überwindens von paarillusionen durch paarmultiplizierende beziehungsmodelle, durch gleichzeitig und doppelt und poly und neudefinierte und resignifizierte beziehungen_freundxschaften_selbstgewählte familienbezüge
ich weine um meine anstrengung, meine nicht zu spüren zugelassene überforderung
ich weine um meine aufmerksamkeit zu anderen und das fehlen meiner aufmerksamkeit zu mir
um mein mich verlieren im versuchen anderen zu entsprechen im glauben und hoffen an das arbeiten für und mit mehrfachbeziehungen, im mich schuldig fühlen mich nicht aufmerksam genug fühlen den jeweils anderen meiner gerade nicht anwesenheit gegenüber; mein mich verlieren in dem verselbstständigten selbstbild durch die liebe zu anderen und für die liebe zu anderen nur zu leben, nur leben zu dürfen, nur lebenswert zu leben – und so dann nicht mehr zu leben irgendwann, selbst
ich weine
um mein so langes und unverbrüchliches glauben an die autentizität meines fühlens auf andere gerichtet, zu anderen hin, die klarheit von liebe, die möglichkeit zu fühlen jenseits der illusionierenden zurichtungen durch genderistische vorstellungen von liebe, von beziehungen, von werten, von gefühlen
ich weine um meine verinnerlichten vernatürlichten illusionen davon, dass es sie gibt, die selbstverständlichen unverbrüchlichen selbstgewählten natürlich gespürten liebesrelationen zugehörigkeit, dass es sie gibt, die große liebe über alles hinweg, die große liebe, die genau mich meint egal was ist
weine
um den verlust
weine um den verlust
meiner sehnsucht, meines sehnens nach verselbstständlichten gesten, wortlosen klaren vertrautheiten im nicht frage gezeichneten umgang mit anderen
weine um meine illusionen
weine wegen meiner desillusionierungen
die einmaligkeits- und die wirklich-wirklichkeitsvorstellung von beziehungslieben ist eine genderistische illusion einer reinen klaren idylle, einer selbstverständlichkeit, einer klarheit, eines alles übersteigenden fühlens, eines wertes, etwas woran x sich festhalten kann, auch wenn alles andere schwierig und kompliziert und unsicher scheint, ist die kapitalistische illusion eines fühlens und kontinuierlich dafür arbeitens
die illusion besetzt meine träume, mein träumen, mein fühlen mein wünschen
meine desillusionierung lässt meine träume zerplatzen, mein träumen, mein fühlen mein wünschen– bleibt was?
ich sitze in einem arbeitsraum, ein großer tisch, viele ausdrucke und computer auf den tischen, gemeinsames denken und formulieren, noch mal nachdenken, überdenken, fragen zeichnen, neu denken neu formulieren, verwerfen, aufstehen, spazieren gehen, weiter denken, neue fragen, zweifel fragend formulieren wagen, vorsichtig fragil, neue worte finden, ausprobieren, schmecken, unterschiedlich zusammensetzen, freude über ankommen in formulierungen, in fragen, kurzes prekäres verstehen und teilen, ko sein, erleichterung, gemeinsame kurse, streiten mit anderen und neu formulieren, transpis malen, auf demos gehen, parties organisieren, plakate malen, postkarten schreiben und verteilen, diskussionen anzetteln und fallenlassen, danach noch zusammen was trinken gehen, lachen, weiterspinnen an fäden von visionen, da sein, im glück von momentanen visionen, im glück von begegnungen
community building, feministisches ver_orten, miteinander zweifelnd ängstlich freudig wütend zögernd mutig ausprobieren, teilen, arbeitend aktivistisch lebend arbeit aktivismus leben teilend, gemeinsam schreibend weitagehn, anwesend sein, leben in und mit einer community mit und für und durch ideen die über uns hinausgehen, im wunsch zu teilen, mich zu verbinden
gemeinsames aktivistisches handeln mit und zwischen und trotz und durch alle differenzen, wortungen ausprobieren und weitagehn, zuhören und die richtung wechseln, sich kümmern, bei- und mit- und füreinander und für sich selbst denkend_handelnd_bewegend sein, eine lebenstragende illusion eines möglichen geteilten lebens
ich weine
um mein besetztsein mit dem aufgehen in zusammenarbeits zusammendenk communityillusionen, in selbstgewählten politischen verbindungen,
um mein versuchen des überwindens von konkurrenzen vereinzelungen individualisierten superlativen und vergleichen in strukturen und jobcenteranforderungen, in lebensläufen und ansprachen, die doch alle das nur immer wieder abfragend herstellen, als norm setzen
weine um das so mühsame und vergebliche versuchen des überwindens von gegeneinander ausspielen in hierarchien, des überwindens von ideen als persönlicher besitz, sondern als politische sich immer wieder und weitabewegende veränderung, als lebensmöglichkeit jenseits verkapitalisierter vorstellungen
weine um meine naivität, viel zu lange, viel zu tief, meine sehnsucht nach handelnd_denkend_aktivistischen begegnungen,
weine um meine illusionierung von kontakt anwesenheit gemeinsamen und geteilten kämpfen
ich weine um meine verinnerlichten vernatürlichten illusionen davon, dass es sie gibt, die selbstverständlichen unverbrüchlichen selbstgewählten natürlich gespürten community und polit- und aktivistimusrelationen zugehörigkeit in und trotz aller sozialen zurichtungen in und durch berufe und karriere und einzigartigkeit und genialität und trennungen zwischen liebe und arbeit trotz aller dekonstruktionen
weine
um den verlust
weine um den verlust
meiner sehnsucht, meines sehnens nach verselbstständlichten wünschen von teilen von ideen, von teilen und weitagehn von utopien von gemeinsamkeit, von trans_x_enden idealen
weine um den verlust meiner naivität, meiner illusionen
weine um meine illusionen
weine wegen meiner desillusionierungen
transfeministisches communitybuilding ist eine genderistisch_rassistische kapitalistische energienehmende entpolitisierende illusion, zusammenarbeit ist eine verkapitalisierte illusion, eine vereinnahmung von energien, ressourcen, ein abarbeiten an verunmöglichten idealen in einer auf individualität, der abwertenden herstellung von differenzen, einer auf einzigartigkeit und wettbewerb angelegten gesellschaft
die illusionen besetzen meine träume, mein träumen, mein fühlen mein wünschen
meine desillusionierungen lassen meine träume zerplatzen, mein träumen, mein fühlen mein wünschen– bleibt was?
ich sitze in der u-bahn und weine, auf dem rad und weine, liege im bett und weine
ich verstecke mich im bad und weine, im büro und weine, im kino und weine
ich laufe aus der sitzung auf die straße und weine, laufe aus der umkleide und springe ins schwimmbecken und weine
ich lese eine email und weine, lese keine emails mehr und weine, ich gehe nicht mehr ans telefon, ich rufe niemanden mehr an
ich spüre die tränen wie sie über meine lippen laufen und kurz am kinn verharren
bevor sie mich loslassen
und sich fallen lassen,
tropfen
mein weinen, eine illusion von betroffenheit, von dasein, von autentizität
meine desillusionierung
umfassend
bleibe ich?
ich?